Neustadt am Main - Gestern und Heute
 
    
Im Jahr 2005
Schwester Julita
  Schwester Julita 

Erstellt am 16.09.2005

 

 

Erschienen in der Mainpost Lohr, 09.09.2005

Bild und Text von Katharina Schwendinger

 

Zwei Jahre lang ohne Worte gelebt

 

NEUSTADT - Wer sie ansieht, glaubt nie und nimmer, dass sie 75 Jahre alt ist. Sie hat unglaublich wache Augen, lacht gerne und liebt das Meer. Die schlimmste Erfahrung in ihrem Leben machte sie mit 50, als sie zwei Jahre lang kein Wort sprechen konnte: Schwester Julita vom Missionshaus St. Josef in Neustadt. Am Samstag feiert sie ihr goldenes Jubiläum.

 

Sie schüttelt lächelnd den Kopf, als sie das farbige Foto mit dem Gelbstich betrachtet. Es zeigt sie in weißer Schwesterntracht mit zwei Mitschwestern in den Siebzigern. "Oje, das ist laaaang her", sagt sie. Hätte ihr damals jemand gesteckt, dass sie 35 Jahre später noch immer im Neustadter Kloster leben würde, dem hätte sie wohl widersprochen. Sie hatte doch so viele Pläne! Ihr größter Traum hieß "Afrika" und ihr zweitgrößter in der Nähe des Meeres zu wohnen, weil sie, die Flachländerin, doch die Berge verrückt machten.

 

Kleiner Rückblick: Mit 20 wollte sie studieren oder Krankenschwester werden und auf jeden Fall eine Familie gründen. Der Krieg machte ihr einen Strich durch ihre Pläne. Als eines von neun Kindern zählte für Agnes Elisabeth Thiede, wie sie damals noch heißt, nur eines: Geld verdienen - um der Familie nicht zur Last zu fallen. Man muss nehmen, was kommt, sagt sie.

 

"Sie ist ein unglaublich zäher Mensch."

Mitschwester Demetria (71) über Schwester Julita

 

Sie landet als Küchenhilfe in einem großen Krankenhaus bei den Clemensschwestern in ihrer Heimatstadt Oldenburg. Es ist die so genannte Trümmerzeit, als es sich niemand leisten kann, irgendwelchen Flausen hinterher zu hängen. Alle sind mit dem Wiederaufbau des zerstörten Deutschlands beschäftigt. Niemand hat genügend zum Beißen. Auch Agnes kämpft um die Butter aufs Brot.

 

Tausend Fragen nach dem Sinn

 

Die Gemeinschaft der Schwestern, die sie im Krankenhaus kennen lernt, gefällt ihr, die Herzlichkeit, die Energie, der Optimismus. Sie beginnt sich für das geistliche Leben zu interessieren, besucht unzählige Gottesdienste. Irgendwann wird sie nachdenklich, tausend Fragen schießen ihr durch den Kopf. Was steckt hinter dem Leben? Wieso lebt man überhaupt? Was ist der Sinn, wo doch alles so sinnlos erscheint?

 

Bei einer Volksmission von den kölnischen Dominikanerpatres in Oldenburg lernt Agnes einen Pater namens Julius kennen. Sie unterhalten sich über Gott und die Welt. Er wird für dreieinhalb Jahre ihr geistlicher Berater. 1954 vermittelt er sie zu den Missionsdominikanerinnen nach Neustadt. Bei der Einkleidung erhält sie wegen ihres Mentors Julius den Namen Julita (kleine Julia).

 

Ein Jahr später, 1955, legt sie ihren Profess ab, sofort danach zieht sie mit zwei Mitschwestern nach Flörsheim am Main, wo sie das alte Krankenhaus der Franziskanerinnen erwerben. Unter Leitung von Schwester Walburga richten die jungen Frauen das im Krieg schwer beschädigte Haus für den Krankenhausbetrieb her. Schwester Julita, die die Küche des Hospitals führt, sprüht vor Kraft und schuftet wie eine Wahnsinnige. Sie kocht leidenschaftlich, immer nach der Maxime: lieber Fisch als Fleisch.

 

Ausbildung in Mainz

 

Weil es viel zu tun gibt in ihrer neuen Arbeitsstelle, begräbt sie vorerst ihren Traum nach Afrika zu gehen, um dort in der Mission zu arbeiten. Stattdessen steigt sie 1969 in den Zug nach Mainz. Dort lässt sich die damals 39-Jährige in einem Abendkurs zur Hauswirtschaftsmeisterin ausbilden. Die dreijährige Ausbildung gefällt ihr, 1972 hängt sie noch eine Ausbildung als Diätassistentin in Stuttgart an. Dass sie dort mit Abstand die Älteste ist, stört sie nicht im Geringsten. Alles läuft nach Plan, Schwester Julita fühlt sich so gut und so stark wie nie zuvor. Sie kann sich ein Leben ohne ihre Gemeinschaft nicht mehr vorstellen.

 

Die Idylle wird an einem wunderschönen Morgen im August 1980 jäh zerstört. Schwester Julita sitzt beim Frühstück, als ihr das Brötchen aus der Hand fällt, sie kurz zuckt und zur Seite kippt. Schlaganfall lautet die niederschmetternde Diagnose, die Minuten später ein Arzt stellt. Noch weiß Schwester Julita nicht, dass sie ihre Reise nach Israel, die der Orden ihr zum Silberjubiläum schenkte, erst vier Jahre später antreten kann. Die Mitschwestern sind geschockt. Schwester Julita ist 50 Jahre alt, als sich ihr Leben innerhalb einer Sekunde um 180 Grad dreht. Aus der Frau, die jahrelang das Kommando in der Küche führte, wird ein Pflegefall.

 

Tour des Leidens

 

Es beginnt eine Tour des Leidens. Ihre komplette rechte Seite ist gelähmt. Sie kann nicht mehr greifen, schreiben, alleine essen. Ihr rechter Sehnerv ist lädiert ebenso ihr rechtes Bein. Und das allerschlimmste: Sie kann nicht mehr sprechen. Wie ein Baby liegt sie hilflos im Bett. Es dauert fast zwei Jahre bis sie sich fängt. Ihren Job in Flörsheim muss sie an den Nagel hängen. Nach monatelangen Reha-Aufenthalten kehrt sie zurück nach Neustadt.

 

Jedes Wort, das sie von nun an spricht, muss sie stundenlang vorher mit einer Logopädin lernen. Jeden Schritt, den sie macht, übt sie eisern mit einem Krankengymnasten. Ihr Leben ist eine Qual. Nachts weint sie, untertags kämpft sie um den kleinsten Fortschritt. Ohne ihren Glauben hätte sie das nicht geschafft, sagt sie heute. "Sie ist unglaublich zäh", meint ihre Mitschwester Demetria (71), die sie seit 45 Jahren kennt.

 

Obwohl der Schlaganfall 25 Jahre her ist, hat er deutliche Spuren hinterlassen. Schwester Julita kann nur schlurfend laufen. Wenn sie ihren rechten Arm in den Schoß legen möchte, muss ihr linker Arm nachhelfen und nach ihm greifen. Wenn sie wichtige Dinge erledigen soll, muss immer jemand bei ihr sein. Beim Sprechen vergisst sie plötzlich, was sie sagen wollte. Und wenn sie sehr aufgeregt ist, verhaspelt sie sich oder gurgelt unverständliche Worte. Manchmal verwechselt sie Buchstaben, sagt dann zum Beispiel statt gehen sehen.

 

Doch das macht nichts. In der Gemeinschaft versteht sie jeder. "Sie ist wie ein Lexikon", schwärmt Schwester Demetria. "Wenn ihr ein Wort nicht einfällt, sucht sie ein neues." Ihren Traum von Afrika hat Schwester Julita begraben. Den Traum vom Meer noch nicht. Sie weiß, wo sie hingehört: "Oldenburg ist meine Heimat und Neustadt mein zu Hause." Und mit den Bergen hat sie sich mittlerweile angefreundet.

 

 

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