Neustadt am Main - Gestern und Heute
 
    
Es soll über 60 Jahre in einem Pferdestall begraben gewesen sein
Es gab keinen Kilian
Das Evangilar um 600 aus Nordfrankreich
  Kilian in der Mainpost 2012 



Kilian: Die Legende vom Frankenapostel
Der Heilige Kilian: Der Legende nach brachte der irische Missionar das Christentum nach Würzburg und erlitt im Jahr 689 zusammen mit seinen Begleitern Kolonat und Totnan den Märtyrertod. Eine Spurensuche in alten Handschriften.


Von unserem Redaktionsmitglied Christine Jeske 29.06.2012, aktualisiert: 03.07.2012 11:05 Uhr

Was ist Wahrheit, was Legende? Was sagt die Wissenschaft, was der Glaube? Für viele Menschen besteht kein Zweifel: Den Heiligen Kilian gab es wirklich.
Seine Geschichte kennt in Franken jedes Kind.

Er war ein irischer Bischof und Missionar, der das Christentum nach Würzburg brachte. Von ihm ließ der fränkische Herzog Gozbert sich taufen und mit ihm seine Untertanen. Als Kilian jedoch Gozberts Schwagerehe mit Geilana missbilligte – Gozbert war mit der Frau seines Bruders verheiratet –, hatte der fromme Mann nur noch kurze Zeit zu leben. Kilian verlangte, dass der Herzog sich von ihr trenne, da diese Verbindung aus christlicher Sicht nicht zulässig war. Geilana ließ daraufhin Kilian und seine Begleiter Kolonat und Totnan ermorden. Die Leichen der Märtyrer wurden am Tatort in einem Pferdestall verscharrt, ebenso das Evangeliar, in dem Kilian gerade las, als der Henker mit seinem Schwert kam. Der Angelsachse Burkard war es dann, der erste Bischof von Würzburg, der mit eigenen Händen die Gebeine ausgrub. Auch das Evangeliar Kilians fand Burkard in der Erde. Es war unversehrt.
So steht es geschrieben. Die Quellen sind sehr sehr alt, für Wissenschaftler wie Dr. Hans-Günter Schmidt, Leiter der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Würzburg, jedoch nicht alt und auch nicht beweiskräftig genug.

Die erste Quelle, die Passio minor, die ältere der beiden Leidensgeschichten Kilians, wird in die Zeit zwischen 752 und 840 datiert. Sie ist also mindestens 60 Jahre nach dem gewaltsamen Tod der drei Iren entstanden, der im Jahr 689 stattgefunden haben soll. „In dieser Kilianspassio gibt es wenig Information“, sagt Schmidt. Erzählt würde die Pilgerschaft Kilians, jedoch mit zwölf statt nur zwei Gefährten. „Auch das Problem mit der Schwagerehe taucht bereits auf.“

Ausführlicher ist die jüngere Kilianslegende, die Passio maior, deren Entstehungszeit um 960 angenommen wird. In einer heute in Hannover aufbewahrten Handschrift erzählt sie die mit vielen Ausschmückungen angereicherte Geschichte Kilians auch in Bildern. So ist nicht nur die Anstifterin zum Mord – Geilana –, sondern auch die berühmte Enthauptungsszene zu sehen. Eine spätere Interpretation dieses Motivs, im späten 11. Jahrhundert aus Elfenbein geschnitzt, schmückt bis heute den Buchdeckel des sogenannten Kiliansevangeliars in der Universitätsbibliothek Würzburg.

Eines schickt Schmidt bei seiner Analyse über Kilian vorneweg: „Er hat Gozbert nicht getauft.“ Gozbert entstammt dem thüringischen Herzogshaus, das 531, also rund 150 Jahre vor Kilian, von König Chlodwig unterworfen worden war, der sich ja bekanntlich taufen ließ. Ein heidnischer lokaler Herrscher im Frankenreich sei seit diesem Ereignis kaum mehr denkbar. „Und die Christianisierung fand sicher bereits vor Kilian statt.“

Schmidt will den Stellenwert Kilians jedoch nicht schmälern: „Dass er vielen Menschen etwas bedeutet oder sogar ans Herz gewachsen und eine wichtige Persönlichkeit für das Christentum in Franken ist, das ist unumstritten.“ Deshalb sei es auch unerheblich, ob die Figur Kilian real existierte oder konstruiert wurde. „Durch den Glauben an ihn, wurde Kilian zu einer Realität und erhielt geradezu eine Lebensberechtigung.“

Die Wissenschaft nähert sich jedoch der Geschichte anders als die Kirche. Sie sucht nach festen, plausiblen Anhaltspunkten, so Schmidt, „nach Dokumenten, die man schlecht widerlegen kann“. Dazu zählen laut dem Würzburger Handschriftenexperten jedoch nicht die beiden „legendenhaft aufgeladenen“ Passiones. „Sie enthalten sicherlich einen historischen Kern.“ Dennoch gebe es auch viele erdrückende Indizien, dass der „Fall Kilian“ auch ganz anders sein könnte.

Bis heute gibt es keine ältere Quelle über den frommen Mann als die beiden Leidensgeschichten aus dem 8. und 10. Jahrhundert. Zu seinen Lebzeiten – Kilian soll 640 in Mullagh geboren worden sein – taucht er in keinen Schriftzeugnissen auf, auch in keinen irischen. „Das ist schon seltsam“, sagt Schmidt.

Andere Verdachtsmomente, die eher dafür sprechen, dass Kilian ein literarisches Konstrukt sein könnte, seien die „legendenhaften Schnipsel“ in der Passio maior. Sie ähneln denen anderer Heiliger. „Das Erzählmotiv der Schwagerehe kommt fast identisch in der Legende des Heiligen Korbinian vor.“ Auch er war ein Missionar und wurde um 670 geboren. Als er vom bayerischen Herzog Grimoald verlangte, sich von Plektrudis zu trennen, die zuerst mit seinem verstorbenen Bruder verheiratet war, musste Korbinian sein südbayerisches Missionsgebiet verlassen – weil er sich den Hass von Plektrudis zugezogen hatte. „Das klingt sehr nach Kilian und Geilana – die übrigens ebenfalls zum ersten Mal in den Passiones greifbar wird, vorher nicht.“

Verdächtig erscheint Hans-Günter Schmidt auch der Inhalt irischer Quellen über Kilian. Auch darin taucht der Heilige erst lange nach seinem Schicksalsjahr 689 auf, erstmals in einem Martyrologium aus dem 9. Jahrhundert. In der Handschrift ist zum Beispiel von seinen Brüdern Aed und Tadg die Rede, nicht von Kolonat und Totnan. Eine Geilana wird nicht genannt, dafür übernimmt eine Amarna, Ehefrau des Königs der Goten, ihre Rolle. Kilian wurde, so heißt es in der Handschrift, im Hippodrom des königlichen Palastes, also auf der Pferderennbahn hingerichtet. Ortsangaben fehlen gänzlich. „Bei dieser Quelle klingt der Inhalt sehr zusammengewürfelt“, meint Schmidt.

Selbst das wertvolle und mit einem speziellen Nimbus behaftete Evangeliar, das um 600 datiert wird, im Besitz Kilians gewesen und mit den Gebeinen Kilians ausgegraben worden sein soll, bietet keinen stichhaltigen Beweis für die reale Existenz Kilians. „Es ist in Unzialschrift geschrieben, wie sie etwa vom 5. bis ins 7. Jahrhundert in Nordfrankreich üblich war. Die Iren hatten ihre irische Minuskel, die sieht ganz anders aus.“ Dies allein schließt jedoch nicht endgültig aus, dass das Buch nicht im Besitz Kilians gewesen sein könnte, meint der Würzburger Experte. Problematischer seien einige spätere Ergänzungen. Paläografen datieren sie ins frühe 8. Jahrhundert, in die Jahre um 720. „Zu dieser Zeit hätte Kilian ja gar nicht mehr leben dürfen.“

Die Geburtsstunde des Frankenapostels beginnt also lange nach seinem Tod. In seiner überlieferten Lebenszeit (also vor 689) existiert Kilian nicht. Es spricht laut Schmidt vermutlich einiges dafür, dass der Urheber der Kilianslegende Bischof Burkhard war. Er hätte triftige Beweggründe gehabt, sich einen bedeutenden Heiligen für sein junges Bistum zu erschaffen. Gegründet wurde es 741 oder 742 von dem – im Gegensatz zu Kilian – in den Quellen gut bezeugten Bonifatius, „übrigens völlig ohne irgendeinen Hinweis auf Kilian“, sagt Schmidt.
Andere Bistumsgründungen von Bonifatius waren Eichstätt, Büraburg und Erfurt. Die beiden letzteren hielten sich nur wenige Jahre. Auch das Bistum Würzburg war vom Niedergang bedroht, da um 750 das mächtige Bistum Mainz seine Fühler in die mainfränkische Region ausstreckte und sie einverleiben wollte. „Der Würzburger Bischof hätte seine eigene Legitimität damit unterstreichen können, in dem er sich einen eigenen bedeutenden Heiligen schuf“, zitiert Hans-Günter Schmidt eine gängige, aber umstrittene Theorie. Jedenfalls gab es, als Burkhard laut seiner Lebensbeschreibung im Jahr 752 die Gebeine ausgrub, plötzlich Kilian. Und mit ihm Kolonat und Totnan.

Würzburger Handschriften mit irischen Wurzeln
Neben dem „Kiliansevangeliar“ befinden sich noch weitere Handschriften der ehemaligen Dombibliothek im Bestand der Würzburger Universitätsbibliothek. Sie werden zurzeit digitalisiert und können teilweise bereits im Internet angesehen werden.

Paulusbriefe: irische Handschrift des 8. Jahrhunderts ergänzt mit vielen Kommentaren, Verweisen und altirischen Übersetzungen des lateinischen Texts. Die Glossen gehören zu den ältesten irischen Sprachdenkmälern überhaupt. Sie waren Grundlage für die Rekonstruktion der „Grammatica Celtica“ durch Johann Kaspar Zeuß 1853, eine für das irische Nationalgefühl bahnbrechende Arbeit. Die Handschrift wird noch heute in der irischen und angelsächsischen Welt als der „Wurzburg Paul“ bezeichnet.

Matthäusevangelium: irische Handschrift (8. Jh.) mit späteren Ergänzungen und eingehefteten Kommentarzettelchen, die keinen Bezug zum Matthäustext haben: Ist es der Inhalt eines gelehrten Zettelkastens, den ein späterer Buchbinder nicht mehr verstanden hat und dort, wo er die Pergamentstreifen zwischen den Blättern fand, eingebunden hat? Waren Paulusbriefe, Evangelium und Zettelkasten im Besitz des Iren Clemens Scotus (zeitweise Leiter der Hofschule Ludwigs des Frommen in Aachen und Verfasser eines Grammatiktraktats)? Clemens scheint nach 826 in Würzburg gestorben zu sein. Zu ihm würde auch gut ein von einem Iren geschriebenes Grammatikfragment passen. Es wurde aus Makulaturschnipseln zusammengepuzzelt, die in Einbänden von fünf Dombibliothekshandschriften gefunden wurden.

Infos zu weiteren Handschriften der ehemaligen Dombibliothek: www.libri-kiliani.eu
Infos zu Führungen durch die Handschriftenabteilung: www.bibliothek.uni-wuerzburg.de

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